ZU VORGESCHICHTE DES LANOLINS
von Prof. DR. TH. HUSEMANN in Göttingen.
Wie selbst nach 1800 Jahren medicinische Autoren in das Getriebe der Welt direct eingreifen und nicht bloss Aerzte
und Apotheker, sondern auch Actiengesellschaften und Gerichte zwingen, sich näher mit ihnen zu befassen, zeigt das Auftreten des ältesten Griechischen Pharmakologen, der uns erhalten ist, des Dioskorides, als Zeuge und Sachverständiger in mehreren vor deutschen und englischen Gerichtshöfen verhandelten Processen.
Der alte Grieche sollte darüber aussagen, ob schon zur Zeit der ersten Römischen Caesaren dasselbe gedacht und gemacht sei, was man als eine nicht unbedeutende wissenschaftliche Erfindung in letzten Viertel des 19. Jahrhunderts betrachtet und als etwas Neues, dem Spruche des Rabbi ben Akiba nicht Unterworfenes, bisher nicht Dagewesenes durch Ertheilung eines Patents gekennzeichnet hat.
Das Zeugniss wurde verlangt in Bezug auf dieses Patent, das sogenannte Lanolinpatent, indem die von der die Liebreich`sche Entdeckung fabrikmässig ausnutzenden Firma gegen verschiedene Verletzer des Patents eingeleiteten Processe seitens der Beklagten Einwendungen hervorriefen, die sich auf die Behauptung stützten, dass die Darstellung des Lanolins überhaupt keine neue Erfindung sei, sondern nur gewissermassen eine Reinschrift von Brouillons, die sich bereits bei Dioskorides und gleichzeitig auch in der Naturgeschichte des Plinius finden.
Ueber die Frage, ob das Lanolin identisch sei mit dem von Dioskorides als Oesypus beschriebenen Producte, haben deutsche und englische Gerichtshöfe in ganz gleicher Weise entschieden. Schön und
richtig lässt sich darüber das am 16. December 1893 gefällte Urtheil
des Richter Romer in der Klage der Firma Benno Jaffé und der
Darmstaedter Lanolinfabrik gegen John Richardson & Co. in Leicester aus, welche wesentlich nach dem Lanolinpatente bereitetes Lanolin unter dem Namen Anaspalin in den Handel gebracht hatten.
Die darauf bezügliche Stelle lasse ich hier in deutscher Uebersetzung folgen:
"Es steht fest, dass die Griechen wussten und Dioskorides angegeben hat, dass aus Schafwolle in heisses Wasser etwas von dessen Fett übergeht und aus dem Felle mittels Auswaschen mit
heissem Wasser eine als Oesypus bezeichnete Substanz zu erhalten
ist". Aber so weit sich der Process aus den bekannten Angaben des
Dioskorides oder aus den Abhandlungen von Personen-, die mit seinen
Schriften oder mit besagtem Oesypus bekannt sind, feststellen lässt,
ist es klar, dass sich Lanolin nicht damit herstellen lässt und dass
keineswegs irgend einer, der mit einem derartigen Processe, wie ihn
Dioskorides beschreibt, bekannt ist, notwendig zu der Entdeckung
des Lanolins geführt werden muss.
Abgesehen von anderen Gründen, so ist nicht ein Wort in der Beschreibung des Processes gesagt, dass
ein Alkali gebraucht worden sei, ohne dessen Anwendung Lanolin sich nicht herstellen lässt. Waschen in Wasser, wenn oft genug wiederholt, entfernt einige der in Wasser leicht löslichen Fettsäuren, aber nicht alle, da einzelne Fettsäuren sich nicht in Wasser lösen.
Und in der That finde ich nach der Beschreibung des Oesypus, wie sie in den von dem Beklagten vorgelegten Büchern gegeben sind, dass es nicht die Eigenschaften des Lanolins gehabt hat. Dazu kommt,
dass Oesypus praktisch viele Jahre vor der Ertheilung des Patents unbekannt gewesen ist, und niemand weiss in Wirklichkeit, wann es überhaupt zuletzt in Anwendung gebracht wurde. In einer Pharmacopoe fand es zuletzt 1720 Erwähnung. Sicher abstrahirte man davon, weil es practisch nicht brauchbar war.
Einige Sachverständige der Beklagten sagen allerdings, dass sie nach den Weisungen von Dioskorides eine mehr oder weniger befriedigende Salbe gewonnen haben, dagegen erklärt P r o f e s s o r A t t f e l d, dass er nur allmählich erkannt habe, wie Dioskrides' Process auszuführen sei, und dies erst mit Hilfe von drei bis vier Experimenten, woraus man wohl schliessen kann, was weniger geschickten und geübten Personen geschehen wird, Wenn sie bloss nach den Angaben von Dioskorides ein Product wie Lanolin darstellen wollen. Was ich in Bezug auf diesen Theil des Falles sagen muss, ist, dass, wenn jemand einen brauchbaren Artikel bloss durch Befolgung von Dioskorides' Vorschrift machen kann, er dazu ungeachtet des Patents Freiheit und Recht hat; aber ich zweifle daran, dass er es fertig bringt, und bestimmt kann nicht gesagt werden, d a s s j e n e V o r s c h r i f t e n d e m P a t e n t e v o r g r e i f e n (that those directions are an antecipation of this patent) o d e r d ie E r f i n d e r i h r e r E r f i n d u n g
b e r a u b e n o d e r d e n G e r i c h t s h o f v e r h i n d e r n, a u s z u s p r e c h e n, d a s s d i e E r f i n d u n g n e u i s t u n d g u t e s M a t e r i a l z u r E r t h e i l u n g e i n e s
P a t e n t s b i l d e t u n d v o n b e d e u t e n d e m W e r t h e e r s c h e i n t."
Von den verschiedenen Urtheilen, die das Reichsgericht in Leipzig bezüglich der Aufrechterhaltung des Patents zu fällen in der Lage war, mögen hier nur ein Paar Sätze aus dem zuletzt erlassenen Platz finden, in welchem das Gericht die vom Rechtsanwalt Lindemann in Hannover, von der Actiengesellschaft Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei in Delmenhorst, der Handlung Gebrüder Noeggerath in Hannover, des Chemikers Dr. Adolf Mente zu Bremen, des Seifenfabrikanten C. H. Oehmig-Weidlich zu Zeitz und der offenen Handelsgesellschaft Grossmann und Cie. in Düsseldorf gegen das abweisende Urtheil des Kaiserlichen Patentamts vom 18 October 1894 eingelegte Berufung verwirft. In den Entscheidungsgründen des vom Ersten Civilsenat des Reichsgerichts vom 19 Juli 1895 gesprochenen Urtheils heisst es :
"Unbegründet erscheinen die gegen die Neuheit des Verfahrens gerichteten Ausführungen der Kläger. Das angefochtene Patent ist ein Kombinationspatent. Das beschriebene Verfahren zerfällt in zwei
Hauptabschnitte : das Reinigungsverfahren und das Einkneten von
Wasser in das gereinigte Wollfett. Das Reinigungsverfahren besteht wiederum in mehreren Operationen, unter denen namentlich die Behandlung der Ausgangsstoffe in der Centrifuge hervortritt.
Dass dieses Verfahren als Gesammtanordnung der Neuheit entbehre, haben die Kläger nicht darzuthun vermocht. Was insbesondere das Recept des Dioskorides angeht, welches auch in anderen griechischen und römischen Schrifstellern und in älteren Pharmacopöen mitgetheilt wird, so vermag dasselbe vielleicht dem Erfinder als Anreger gedient zu haben, es bestehen aber so erhebliche Verschiedenheiten zwischen den Anordnungen der Patentschrift und der Anweisung des Dioskorides, dass in den Druckschriften, durch welche letztere überliefert wird, eine die Neuheit des patentirten Verfahrens ausschliessende Veröffentlichung nicht gefunden worden kann."
Zu derselben Anschauung wie der englische Richter und der erste Civilsenat des deutschen Reichsgerichts, deren Aussprüche in Acten entnommen habe, die mir von Herrn Dr. Darmstädter bei der Gelegenheit der Ausarbeitung zweier pharmacologisch-chemischer Gutachten über die aufgeworfene Frage, ob das in den letzten Jahren von der obengenannten Actiengesellschaft in Delmenhorst in den Handel gebrachte, als Adeps lanae bezeichnete Product gereinigtes Wollfett und die durch Verreiben mit Wasser daraus entstehenden Salben, Kühlsalben und Crêmes Lanolin im Sinne des Reichspatents seien, vorgelegt wurden, bin ich auch durch eingehendere Studien des Dioskoridischen Oesypum gelangt. In No. 11 der Göttinger Gelehrten Anzeigen von 1894 S. 880 habe ich bei Gelegenheit einer Besprechung der Huber-Lüneburg'schen Uebersetzung des Soranus das nach der Anweisung des Dioskorides aus der Schafwolle dargestellte Product zwar als einen Vorläufer des Lanolins, aber von diesem so verschieden "wie eine Ballista der Alten von einer Krupp'schen Kanone" bezeichnet. Ich halte auch heute noch diesen Vergleich aufrecht, denn Lanolin ist eine als Salbenconstituens vortrefflich geeignete Emulsion von reinem Wollfett d. h. von Cholesterin und Isocholesterinestern, des Dioskorides Schafwollfett dagegen ein von Verunreinigungen nur unvollkommen befreites, flüchtige Fettsäuren neben Cholesterin- und Isocholesterinverbindungen enthaltendes, somit höchstens halbreines Wollfett, das den Anforderungen der Reinlichkeit, welche die Gegenwart an die Basis einer Salbe stellt, in keiner Weise Genüge leistet.
Dass die Vorschrift des Dioskorides Liebreich als "Anreger" zur Erfindung des Lanolins gedient habe, wie das oben besprochene Reichsgerichtserkenntniss als möglich betont, ist nicht sehr wahrscheinlich. Seine erste Publication in der Berliner klinischen Wochenschrift vom 23 Nov. 1885 deutet viel wahrscheinlicher auf die Untersuchungen von Fr. Hartmann und E. Schulze über die Cholesterinester der Schafwolle als den Ausgangspunkt und das Anregungsmittel zu den Liebreich`schen Versuchen hin. Jedenfalls hat aber der Entdecker des Lanolins von dem Oesypum des Dioskorides frühzeitig Kenntniss besessen, und er selbst ist es gewesen, der die längst vergessene Kunde vom Oesypum auf einem Meeting der British Medical Association wieder auffrischte. In seinem im British Medical Journal vom 23 October 1896 veröffentlichten Vortrage gibt er an, dass das ungereinigte Wollfett lange Zeit den ackerbauenden und viehzüchtenden Völkern bekannt gewesen und dass deren alte Bezeichnung Oesypus sei. "Ich werde Ihnen einfach erzählen, dass Oesypus schon in der Zeit Herodots gebraucht wurde. Dioskorides beschreibt die Bereitung das Oesypus aus Wolle, und seine Beschreibung wird reproducirt in den meisten Pharmakopöen bis zum 18. Jahrhundert."
Dies und einige kurze Notizen über die Verwendung von Oesypum
als Cosmeticum in den Zeiten Ovids und über eine Stelle aus dem
bekannten Gedichte des Hierouymus Eracastorius über die Syphilis,
worin Einreibungen mit Oesypum und Oleum mastichinum bei Gliederschmerzen empfohlen werden, sind das Erste, was von geschichtlichen Thatsachen aus der Vorgeschichte des Lanolins veröffentlicht
worden ist. Etwa ein Jahr später hat N. W u l t s b e r g (Christiania)
im Märzheft 1887 der Therapeutischen Monatshefte S. 92 "geschichtliche Notizen über Oesypum" veröffentlicht, in denen das auf das
Wollfett der Griechen und Römer bezügliche Capitel des Dioskorides
wörtlich übersetzt ist, und worin er die bei Celsus unter Zusatz von
Oesypum bereiteten Salben und Pflaster aufzählt. Einiges aus Plinius
und Galen vorbringt und schliesslich noch einige Pharmakopöen und
Arzneimittellehren des 17. und 18. Jahrhunderts, die das Oesypum
besprechen, namhaft macht.
Eine etwas ausführlichere historische
Ababhandlung zur Geschichte oder richtiger zur Vorgeschichte des Lanolins hat G. V u l p i u s (Heidelberg) im 11 Hefte von Bd. 126 des Archivs der Pharmacie (Mai 1888) publiciert. Diese gibt die auf
Oesypum bezügliche Hauptstelle aus Plinius, die Uebersetzung eines
Capitels aus Matthiolus' Commentar zum Dioskorides und des Abschnittes Oesipum aus dem Dispensarium Coloniense von 1566, den
Abschnitt darüber aus der bekannten Pharmacopoe von Schroeder
und schliesslich wieder die Uebersetzung des Oesypus der Pharmacopoea Augustana von 1694. Obschon Vulpius' Arbeit einige wesentliche Ergänzungen zu Liebreichs und Wulfsbergs Notizen, besonders ist Bezug auf das 16 und 17 Jahrhundert bietet, kann auch sie
nicht als eine ausreichende Vorgeschichte des Lanolins betrachtet
werden, da sie wie jene Autoren die spätrömische und spätgriechische
Zeit und das ganze Mittelalter völlig unbeachtet lässt, und wenn sie
auch angibt, "über Oesypum aus dem Inhalte mehrerer erst jüngst
der Vergessenheit entrissenen Werke und Documente Thatsachen
anzuführen", so ist doch ausser dem allerdings selten gewordenen
Kölner Dispensarium von 1666 kein Buch benutzt, das nicht auf jeder
Universitätsbibliothek von Deutschland zu haben wäre. Es sind nur
Bausteine zu einer Vorgeschichte des Lanolins, verhältnismässig
wenige, und noch dazu fehlt der nöthige Mörtel, um das Ganze zusammezuhalten, so dass es befähigt werde, einen Thurm von
wichtigen Schlussfolgerungen zu tragen, während es so nur eine
Stütze für ein schwaches Rohr- und Schilfgeflecht von Vermutungen
zu bilden vermag, das einem kritischen Sturmwinde Widerstand zu leisten nicht vermag. Einige Notizen über Oesypum, die
sich theils in B. F i s c h e r s neueren Arzneimitteln, theils in einem
Feuilletonartikel, den R. P e t e r s über moderne Mittel im Fränkischen Courier publicirte, theils endlich beiläufig in dem Abschnitte über Wundmittel in der Arbeit 16. v. G r o t e 's über die Pharmakologie in der Hippokratischen Schriftensammlung (Koberts Dorpater
hist. Studien 1889. I) finden, sind nicht ausreichend, diesem Mangel
abzuhelfen. Es ist meine Absicht, durch Herbeischaffung von Thatsachen aus der Spätperiode des Alterthums und aus dem Mittelalter
(in den bisherigen Veröffentlichungen ist das ganze Mittelalter unberücksichtigt geblieben, da der dahin gezählte Eracastori schon als
neunjähriger Knabe die Entdeckung von America erlebte und sein
Lehrgedicht über Syphilis erst 13 Jahre nach der Lutherschen Reformation erschien), die Verbindung zwischen den aus Bausteinen des Alterthums und des 16-18 Jahrhunderts errichteten Theilen
zu repariren und das Ganze mit einem bisher seitwärts liegen gebliebenen Schlusssteine zu krönen.
|